Während und nach meiner Schulzeit habe ich mich in der Bergrettung engagiert. Um immer auf dem Laufenden zu sein, war ich in der Schweiz um mich im Hochgebirge ausbilden zu lassen. 20 Jahre später treffe ich meinen damaligen Ausbilder Jürgen zufällig wieder. Jürgen war inzwischen auch Segel-Instruktor und kürzlich auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela gelaufen. Weil es gerade Sommer war und wir uns lange nicht gesehen hatten, haben wir eine Woche frei genommen und sind am Urnersee zusammen gesegelt. Dabei habe ich ihn gefragt, wie es ist, wenn das Leben 3 Monate lang aus einer einzigen Wanderung besteht.
M:
Jürgen, ich danke dir, dass du für dieses Interview zur Verfügung stehst! Du bist von deiner Haustüre in Südbaden auf dem Jakobsweg gegangen und hast erst wieder in Santiago de Compostela halt gemacht. Das sind ca. 2000 km und 3 Monate, die du mit Rucksack unterwegs warst, eine ziemlich lange „Etappe“. Was kannst du uns darüber erzählen?
J:
Es waren sogar etwas mehr – ungefähr bin ich 2600 km und noch ein paar Tage mehr als 3 Monate gelaufen. Ich bin in Emmendingen an einer Halle losgelaufen, wo ich mein Auto geparkt hatte, denn ich hatte ja keine Wohnung mehr. Dort hatte ich auch mein Zeug untergestellt und bin abends an einem Mittwoch Ende April um 18 Uhr zum Jakobsweg losgelaufen, bis es drei Stunden später dunkel war und ich mein Zelt am Kaiserstuhl in den Weinbergen aufgeschlagen habe.
M:
Was hat dich bewegt auf den Camino aufzubrechen, oder macht man so was freiwillig?
J:
(Lachen) nein, es war innerer Zwang… (Lachen) ja es war ein Kindheitstraum, Frankreich mal zu durchqueren bis zur Atlantikküste. Ich habe als Kind immer diese Mantel & Degen-Filme angeschaut und musste Frankreich mal so kennen lernen. Und dann hat es sich innerhalb von zwei Wochen ergeben. Ich hatte eine Kündigung und habe Bewerbungen geschrieben, die nicht funktioniert haben und dann habe ich gedacht, jetzt gibst du mal dein Geld aus. Ich hatte die Wanderführer vom Jakobsweg schon zu Hause, da ich sie mir mal zu Weihnachten angeschafft habe. So hatte ich eine grobe Richtung aber ich habe auch immer schon gerne Führer gelesen und so bin ich mental schon unterwegs gewesen, ich träume mich dann schon dort hin. Und auf einmal habe ich alles gebraucht.
M:
Aber zwei Wochen vorher war dir noch nicht klar gewesen, dass du die sieben Sachen packst und den Jakobsweg laufen wirst?
J:
Als die Idee kam, wusste ich schon, dass es jetzt passiert, weil ich es innerlich einfach gespürt habe. Dann hat es gebrannt und es hat auch nicht mehr aufgehört.
M:
Dann erübrigt sich ja wohl meine nächste Frage: wie hast du dich darauf vorbereitet?
J:
Ja, eigentlich gar nicht. Also wenn du so lange wanderst, ist es so, dass du die ersten beiden Wochen Muskelkater hast und danach funktioniert es einfach.
M:
Aber du bist auch Sportler, kletterst, machst ständig Touren in den Bergen und hattest bereits Kondition?
J:
Ja, das schon.
M:
Und wie kam es zur Ausrüstung, hast du sondiert, was für dein Vorhaben taugt und den Rest noch angeschafft?
J:
Ich habe so gut wie alles gehabt, bis auf ein Zelt, das ich noch kurz gekauft habe. Das war ein chinesisches 2-Mann Zelt, in das aber nur ein Europäer mit Rucksack passt. Es wog nur 1,4 kg und hat 14 Euro gekostet. Ich hatte bereits eines, habe mir es aber neu bestellt und hätte es dann weg geworfen, wenn es kaputt gewesen wäre. Wenn es richtig regnet, ist es innen wie eine Benebelungsanlage. Einmal hatte ich 4 Tage Dauerregen auf dem Zeltplatz, das war die totale Scheisse, aber du bist eben weg von den Tieren.
M:
Wie hat es sich angefühlt, als Pilger auf dem Jakobsweg unterwegs zu sein, wo waren schwierige Situationen?
J:
Das spannendste war jeden Tag die Logistik: wo kann ich einkaufen, wo bekomme ich Getränke her, und wo werde ich heute Abend schlafen. Meistens habe ich auf die Pilgerherbergen verzichtet. Am Anfang hat mich das ziemlich beschäftigt. Manchmal war es schlecht und kalt und dann musste ich ein Zimmer finden, das war eine tägliche Herausforderung unterwegs. Aber mit der Zeit wurde es entspannter, je länger ich unterwegs war, da ich innerlich das Vertrauen entwickelt habe dass dort etwas auf mich wartet und dass es weiter geht. Einmal hatte ich die Situation, dass ich drei Tage lang nichts einkaufen konnte und dann an meinen Notproviant gehen musste. In einer Box hatte ich Riegel mit 2000 Kalorien dabei, die ich einmal gebraucht habe. Sonst hat es immer funktioniert Nachschub zu finden.
M:
was hast du unterwegs gegessen?
J:
Ich habe abends immer eine komplette Mahlzeit gegessen. Im Supermarkt habe ich mir Fertigmahlzeiten für die Mikrowelle gekauft, denn diese stehen nicht im Kühlregal, ich kann sie kalt essen, oder in die Sonne stellen und dann warm auslöffeln. So habe ich mich drei Monate lang ernährt.
M:
Aber du hast dann auch gekocht?
J:
Nein, ich habe keinen Kocher dabei gehabt. Es ging auch ohne Kocher.
M:
Ach, deshalb reichte dir ein 35 Liter Rucksack?
J:
Einmal in der Woche bin ich richtig essen gegangen mit Fleisch usw. denn in den Fertigmahlzeiten ist viel Geschmacksverstärker drin, aber es hat funktioniert. Mein Körper hat ausreichend Energie bekommen.
M:
Also Astronautennahrung 2.0?
J:
ja, und wenn ich ein Zimmer hatte, dann habe ich mir mit warmem Wasser aus der Leitung einen Instant-Cafe gemacht. Unterwegs bin ich auch mal in ein Cafe gesessen oder habe mir unterwegs ein Bier gegönnt. Zu der Zeit war gerade „Tour de France“ und 1-2 Stunden vor dem Feierabend habe ich dann in einer Bar eine Pause eingelegt.
M:
…und dann weiter in den nächsten Strassengraben…
Bei der Auswahl deiner Verpflegung hast du mehr Wert auf den Brennwert gelegt als darauf, was dir besonders gut schmeckt. Du hattest ausgerechnet, wie viel Energie du jeden Tag zuführen musst, ich glaube über 5000 Kalorien?
J:
…ja wahrscheinlich sogar mehr als 6000 Kalorien. Aber so viel kannst du abends unmöglich bei einer Mahlzeit zu dir nehmen. Während dem Laufen habe ich immer wieder Obst gegessen, aber das alles reicht ja nicht. Und so viel Wein und Bier kannst du auch nicht trinken… Du brauchst also in jedem Fall die Reserven des Körpers. Ich hatte auch welche und habe sicherlich 8 kg abgenommen.
M:
wie lange kann der Körper von den eigenen Ressourcen zehren?
J:
Sehr lange. Aber irgendwann baut dein Körper auch Muskeln und Gelenke ab und da musst du dann Mineralien und Nahrungsergänzungs-Mittel aus der Apotheke organisieren.
M:
Also so lange dein Körper noch Fett abbauen kann, büßt du auch keine Leistungsfähigkeit ein?
J:
Nein, im Gegenteil du wirst immer fitter und machst mehr Kilometer.
M:
nochmals zu deiner Route und zu den Etappen auf der Wanderung: du hast mir erzählt, dass du dich am Jakobsweg orientiert hast, aber dich manchmal auch für einen der Fernwanderwege entschieden hast.
J:
ja, ich bin ungefähr die Hälfte der Strecke auf dem klassischen Camino (Jakobsweg) gelaufen, über Strassbourg nach Le Puy und dann über das Massiv Central und weiter über die Pyrenäen. Meistens werden die Großstädte umgangen, was mir sehr entgegen kam. Ich kann nicht mehr genau sagen, wie viele GR’s ich unterwegs gegangen bin, das habe ich immer vor Ort entschieden.
M:
Hattest du Kartenmaterial dabei, oder welche Informationsquellen hast du genutzt?
J:
Ich hatte nur die drei Führer eingepackt, und wenn einer nach acht- bis neunhundert Kilometern aufgebraucht war, habe ich ihn zu meiner Mutter heim geschickt. Irgendwann habe ich auch keine lange Hose mehr gebraucht, die kam auch auf die Post. Einmal habe ich mir eine Karte gekauft, denn ich wollte den Atlantik über die Pyrenäen erreichen, als ich noch ungefähr 150 km Luftlinie hatte. Der Abschnitt des GR 10 oder GR 11 ist dort schon richtig gebirgig und damit ich es finde, wollte ich eine Karte haben. Die Karte habe ich dann später verschenkt, in einer Herberge.
M:
Gab es einen Punkt, bei dem du aufgeben wolltest?
J:
Nein daran habe ich nie gedacht. Eine Ausnahme wäre gewesen, wenn ich mich verletzt hätte. Am Anfang habe ich immer noch einen Ruhetag pro Woche gemacht, aber nach sechs Wochen habe ich das aufgegeben, weil es einfach zu langweilig wurde. Da habe ich nachmittags um zwei Uhr schon angefangen Rotwein zu trinken und es den ganzen nächsten Vormittag gebraucht hat um alles wieder raus zu schwitzen… also habe ich dann umgestellt, so dass ich einmal pro Woche nur eine kleinere Etappe gegangen bin, oder an einem Ort geblieben bin der mir gut gefallen hat. Jedenfalls habe ich das nicht geplant, sondern so gemacht wie es sich ergeben hat. Später an der nördlichen Küste Spaniens und im Baskenland habe ich oft an einem einsamen Sandstrand gebadet und ein paar Stunden Pause gemacht.
M:
Trotzdem hast du einen 30-km-Schnitt gelaufen und hattest Etappen mit knapp 50 km für einen Tag?!
J:
Ja, das hat sich so ergeben. Ich habe unterwegs Logbuch geführt mit Wetter, Entfernung und Höhenmetern. Auch wie es mir ging habe ich darin festgehalten.
M:
Würdest du es nochmal machen?
J:
Also ich habe es jetzt ja erlebt, im Moment gibt es keinen Reiz mehr das zu wiederholen. Unterwegs habe ich Leute getroffen, die nicht schlecht gestaunt haben, dass ich schon drei Monate gelaufen bin. Aber ob du vier Wochen gehst oder drei Monate, ist kein grosser Unterschied mehr, ausser dass sich ständig die Landschaft verändert.
M:
Wie hat sich dein Leben verändert durch diese Erfahrung?
J:
Mein Leben ist viel stressfreier geworden. Ich mache mir ganz selten einen Kopf darüber, wie die Sachen laufen, denn die laufen einfach. Ich nenne das „determiniert“ und es ist meine Erfahrung, dass es so kommt wie es kommen soll. Zum Beispiel steht schon fest, dass ich heute Abend ins Bett gehe, wann und mit welchen Gedanken, weiss ich nicht, aber klar ist, dass ich heute Abend im Bett liege und mich in den Schlaf fallen lasse … Ich wusste zwar schon früher, dass es so etwas gibt, aber es hat sich enorm in mir vertieft und ist zu einer Erfahrung geworden. Dadurch habe sich auch emotionale Berg- und Talfahrten aus meinem Leben verabschiedet. Es ist weg und kam auch die letzten zwei Jahre nicht zurück. Ich kann mich noch immer für Sachen total begeistern, das kenne ich alles, aber es existiert keine Angst mehr in meinem System. Ängste die ich früher mal hatte, haben sich einfach so verabschiedet. Ich habe ja auch keinen spirituellen Plan verfolgt, ausser dass ich durch Frankreich laufen wollte. Das hat sich einfach verabschiedet.
Mein Ziel war dann Porto, um von dort aus zurück zu segeln. Aber ab Santiago war dann die Luft raus. Da habe ich mich dann öfters verlaufen und war nicht mehr ganz bei der Sache.
M:
du sagst dass Porto dein Ziel war, wann ist dieses Ziel in deinem Bewusstsein aufgetaucht, hattest du es schon vor Augen als du los gelaufen bist und wie oft hast du daran gedacht?
J:
Als ich los gelaufen bin, gab es das Ziel noch gar nicht, es ist unterwegs entstanden und ich habe während dem Laufen nie daran gedacht. Irgendwann habe ich mir überlegt dass es toll wäre von dort zurück zu segeln nach Holland oder in die Nordsee. Aber dann kam es anders, weil meine Mutter eine Augen Operation hatte. Das Ziel entstand erst unterwegs.
M:
Wie war es, wieder heim zu kommen, manchmal höre ich dass man gerne mal in ein Loch fällt nach so einer Expedition?
J:
Ich bin schon öfters unterwegs gewesen und da ist es mir sehr leicht gefallen zu Hause wieder Fuss zu fassen. Ich war voller Energie und habe mich daran gemacht einen Job zu finden. Das hat dann auch geklappt und ich habe mich auch wieder auf das alltägliche Leben mit einer vertieften inneren Einstellung gefreut.
M:
Vorhin hast du gesagt, du hast kein spirituelles Motiv verfolgt. Gab es einen Moment, wo du so einen Aspekt wahrgenommen hast?
J:
Ich würde es nicht spirituell nennen, aber es ist das Erleben, das ich vorhin erwähnt habe – ‚Bestimmung‘ hört sich nicht passend an, aber ich erlebe es seither so, dass Dinge die du machst, eigentlich schon klar sind und sich nur noch manifestieren. Das war für mich die tief greifende Erfahrung. Man kann es spirituell nennen, aber ich nenne es nicht so.
M:
Also dass alles was passiert so ist wie es passiert …
J:
…ja, es kann gut oder schlecht sein, aber es kann nur so sein wie es ist. Diese Erfahrung hat sich bei mir tief verwurzelt und ich habe sie in mein tägliches Leben übernommen. Es fühlt sich gut an, auch wenn es scheisse läuft 😉
M:
Was würdest du jemandem empfehlen, der mit dem Gedanken spielt zu pilgern, den Jakobsweg zu machen, sei es als Pilgerweg oder Fernwanderung?
J:
Da kann ich nichts empfehlen, denn ich bin ja auch nicht repräsentativ für die Masse. Ausser eines vielleicht: einfach los gehen! Wenn dir unterwegs etwas fehlt, kannst du es ja kaufen und was zu viel ist, schmeisst du einfach weg.
M:
Du hast dich nie gefährdet gefühlt, durch eine Situation oder durch andere Menschen?
J:
Doch (lacht). Einmal habe ich auf einem alten Flugfeld das Zelt aufgestellt und dann kamen nachts Wildschweine. In meinem Hirn ging alles mögliche ab und ich bin mit meinem Teleskopstock raus, aber dann habe ich kein Auge mehr zu gemacht.
Und dann hatte ich eine Situation in einer Pilgerherberge in San Sebastian. Da gab es einen Schlafraum für 50 Leute ohne Fenster, aber klimatisiert und mit Stockbetten. Nachts wollte ich auf die Toilette gehen. Links und rechts war so ein Eisengitter, und als ich aussteigen wollte ist es abgebrochen und mit mir aus dem zweiten Stock auf den Betonboden gefallen. Während dem Flug habe ich noch gedacht, jetzt brichst du dir die Hände und den Schädel. Das hat einen Wahnsinns Schlag getan und ich lag dann auf dem Eisengitter und das war mit Abstand die gefährlichste Situation, die ich unterwegs erlebt habe.
M:
ok, was können wir als Fazit daraus ziehen, Leute, nehmt den Rucksack, lauft los, aber hütet euch vor Stockbetten?!
J:
ja so ziemlich. (lacht).
M:
ich danke dir herzlich für das Interview und dass du dein Erlebnis mit uns teilst!